Mit Gnade begann mein neues Jahr – auf ganz besondere Weise. Im Morgenrot des neuen Jahres saß ich wartend in einem Foyer. Plötzlich stellte sich eine Frau mit einer Trompete in eine Ecke und spielte einfach so für alle „Amazing Grace“. Das hat mich unerwartet so gerührt, dass mir spontan die Tränen aus den Augen tropften – ohne jeden Schmerz, nur mit einem tiefen Gefühl von Glut im Brustraum. Als zweites spielte sie noch „Möge die Straße uns zusammen führen“, den irischen Reisesegen. Was für ein Beginn für ein Jahr – Gnade und Segen auf dem Weg: Beides wünsche ich auch Ihnen in aller Reichhaltigkeit!
Gnade hatte mich mitten ins Herz getroffen. Doch was ist eigentlich Gnade?
Um Gnade zu beschreiben sind Worte und Erklärungen der Vernunft weniger geeignete Träger. Gnade geht aus der Transzendenz und der für uns geistig uneinschätzbaren Größe und Art Gottes hervor. Sie kann am ehesten in der menschlichen Ganzheit, nicht nur reduziert auf den Verstand, erfasst werden. Gnade kann sich ahnen lassen in Kunst, Poesie, Klang, Schönheit, Natur, Berührung. Nutzen wir daher „Amazing Grace“, dieses weltbekannte Lied und seine Geschichte, um über die Worte hinaus den Raum zu öffnen, der Gnade erfahrbar macht.
Amazing Grace – Wundersame Gnade
Das Lied „Amazing grace“ von John Newton beschreibt gerade in den beiden ersten Strophen – in einfachen Worten und ergänzt durch die von der Musik ausgelösten Gefühle – den Prozess, den Gnade und gnadenhafte Erfahrung von Vergebung bewirkt. Es vermittelt durch seine hymnische Melodie das zugehörige Gefühl der Ergriffenheit durch Begegnung mit unerwartetem Entgegenkommen, Erhabenheit, Rettung, Geschenk und Weitung des Herzens. Er schrieb dieses Lied für einen Neujahrsgottesdienst.
Amazing grace how sweet the sound that saved a wretch like me. I once was lost but now I‘m found, was blind but now I see | Wundersame Gnade: wie süß der Klang, der einen Elenden[1] wie mich rettete. Einst war ich verloren, aber nun bin ich wiedergefunden, ich war blind, aber jetzt sehe ich. |
T‘was grace that taught my heart to fear and grace my fears relieved. How precious did that grace appear the hour I first believed. | Gnade war‘s, die mein Herz lehrte zu fürchten und Gnade, die meine Ängste linderte. Wie kostbar tauchte diese Gnade auf in der Stunde, in der ich begann zu glauben. |
Der britische Autor John Newton war Sklavenhändler und Kapitän eines Sklavenschiffs. Er wurde als streitsüchtig, aufsässig und hochnäsig beschrieben. Obwohl er selbst eine Zeit seines Lebens versklavt war, ging er sehr hart mit den ihm anvertrauten Sklaven um. Kurz vor dem Sinken seines Schiffes in Seenot schrie er laut in den Sturm, er rief die Gnade Gottes an: „Lord, have mercy upon us!“ „Gott, erbarme dich unser“ und es wurde gerettet – sein besonderer Moment der Gnade. Diese Rettung rechnete er sich selbst nicht an und seinem seefahrerischen Können. Er erkannte anschließend die Grausamkeit der Sklaverei und behandelte nach seinem Gnadenerlebnis die Sklaven besser. Die Seefahrt gab er bald auf und wurde zunächst Hafenmeister, später Pfarrer. Im Verlauf seines Lebens setzte er sich gegen Sklaverei ein, inspirierte persönlich den Abgeordneten William Wilberforce, der 1807 nach 18 Jahren Kampagne die Abschaffung der Sklaverei in Großbritannien politisch durchsetzte. D.h. auch wenn wir manchmal denken, Menschen können sich nicht ändern: Doch, durch Gnade ist das möglich, und es ist hilfreich, ihr die Tür zu öffnen wie hier durch das Stoßgebet.
Zum Text: Gnade bewirkt das hier Gefühl der Errettung aus tiefster Not, des Gefundenwerdens, der Heilung von Blindheit, d.h. dem Erkennen der eigenen Situation hinzu: etwas, was der Mensch nicht aus sich selbst heraus erreichen kann. Gnade bewirkt Selbsterkenntnis, hier im Wort „wretch“ und dem Gefühl des Verlorenseins ausgedrückt. Sie lehrte den Autor Gottesfurcht und befreite ihn von Ängsten.
Der Geist des Herrn lässt sich nieder auf ihm: der Geist der Weisheit und der Einsicht, der Geist des Rates und der Stärke, der Geist der Erkenntnis und der Gottesfurcht. Jesaja 11,2
So, wie es bei Jesaja klingt, mag hier ein Niederlassen des Heiligen Geistes bzw. Geisterfüllung geschehen sein: dem Geist der Einsicht, der Erkenntnis und der Gottesfurcht. Gnade fühlte sich – besonders bei der 1. Begegnung – nämlich der Errettung aus Seenot – kostbar an und bewirkte, dass der Autor eine intensive Glaubenserfahrung machte, förmlich in den Glauben fiel. John Newtons Umkehr setzte ein.
Gnadenakte können neben den Sakramenten, Heilung, Errettung aus Leid und Not auch durch spontane Begegnungen, Perspektivwechsel, unerwartete Botschaften oder Freundlichkeit, Erfahrung oder Beobachtung von Liebe, Geistesblitze, inspirierende Rollenmodelle, außerordentliches emotionales Erleben oder ganz kleine Dinge wie das Lächeln eines Kindes eintreten. Dass die vordergründige Welt wie ein Vorhang fällt und dahinter in allem Licht und in Klarheit eine Wahrheit in unserem Bewusstsein auftaucht und wir plötzlich etwas verstehen, umdenken und Gefühle von uns abfallen, die uns vorher schwer zu schaffen gemacht haben. Das – ist Gnade, das ist Gott, das kommt nicht von uns, das können wir nicht aus uns selbst. Inspiration – der Geist tritt ein, eine Bewegung von Gott auf uns zu.
Warum brauchen wir das? Ich weiß, das Wort Sünde ist nicht wirklich beliebt, aber es soll hier helfen zu verstehen. Dietrich Bonhoeffer beschreibt Sünde so: „Sünde will unerkannt bleiben, sie scheut das Licht. Im Dunkel des Unausgesprochenen vergiftet sie das ganze Leben des Menschen.“[2] Oft wissen wir gar nicht, warum es uns schlecht geht und woran wir festhängen, was uns stresst, ängstigt oder depressiv macht. Wir gehen wie durch Nebel. Manchmal sind all die Unglückschläge einer schwierigen Zeit nur ein Rennen vor die Wand, das wir wieder und wieder versuchen, statt durch die Tür zu gehen. Dann ist die Erkenntnis die wundersame Gnade und großer Segen.
Albert Einstein sagte: „Probleme kann man niemals mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind.“ Wir brauchen diesen Anstoß, unser Denken zu verändern. Denn Gottes Liebe und Gnade ist gerade dies: „Die größte Wohltat, die man einem Menschen erweisen kann, besteht darin, dass man ihn vom Irrtum zur Wahrheit führt“ (Thomas von Aquin). Nur Gott weiß, zu welcher Wahrheit er uns gerade führt. Manchmal dauert das sehr lange, über Jahre hinweg. Auch seine Geduld ist Gnade.
Wenn wir von Gott Wunder erwarten, dann sind diese Wunder eher subtil und sie geschehen oft durch Inspiration oder das Einwirken anderer inspirierter Menschen, selten gegen die Naturgesetze, was nach meiner Erfahrung viele erwarten. Zum Kennenlernern empfehle ich Ihnen eine Meditation von Richard Rohr (www.cac.org) mit folgendem Satz. Wiederholen Sie ihn in einem ruhigen Zustand mit Pausen mehrfach hinereinander.
„Gott, bitte öffne mich für Gnade über Gnade über Gnade.“
[1] „wretch“ = mehrere Synonyme wie Schurke, Unglückswurm, Schuft, also Mischung aus selbst- und fremdverschuldetem Unglück.
[2] Dietrich Bonhoeffer, Gemeinsames Leben, Gütersloher Verlagshaus, 2010, 94